STRATEGIE. Annäherung an einen schwierigen Begriff

9.11.2025 / Michael Geiss

„Wir verfolgen eine klare Strategie“. Marketing-, Vertriebs- und AI-Strategie, Implementierungsstrategie, HR-Strategie, Servicestrategie, Kostenstrategie, Differenzierungsstrategie. Ach ja: Innovationsstrategie, Diversifizierungsstrategie. Freemiumstrategie. Blue Ocean Strategie. Alles klar?

Was bitte ist eine Strategie?

Eine Fabrik in China bauen – strategisch? Ein neuen Service entwickeln – taktisch? Während allenortens von Strategie gesprochen wird, kann allerdings kaum jemand erklären, was Strategie überhaupt ist. Dieser Artikel versucht eine Antwort.

Der allgemeine Sprachgebrauch versteht „Strategie“ als eine Folge zusammanhängender Entscheidungen, die , langfristig, irgendwie bedeutend und teuer sind. „Taktik“ dagegen meint das operative, kurzfristige, reversible. Diese Unterscheidung wird intuitiv gemacht.

Sie hat aber ein Problem: Sie hilft nicht weiter zu verstehen, wann und wofür eine “Strategie” zu entwickeln ist, was eine Strategie umfasst – und warum Strategien tragen, während Pläne scheitern.

Die verkürzte- oder Fehlinterpretation des Strategiebegriffs ist auch der Grund für seine inflationäre Verwendung. Alles Mögliche wird zur Strategie erhoben, denn der Begriff adelt die strategische Aufgabe, das strategische Projekt oder das eigene Strategie-Konzept.

Deshalb soll dieser Artikel dazu beitragen, Aufmerksamkeit zu schärfen und ein gesundes Misstrauen zu kultivieren, wenn der Begriff „Strategie“ einmal mehr verwendet wird. Er soll helfen zu verstehen, was strategisches Denken ausmacht und unterscheidet, und woran Strategien wirklich zu erkennen sind.

Worum es hier geht:

Was ist Strategie?

Strategiedefinitionen in Literatur, Wissenschaft, Management

Strategie und Tacit Knowledge

Westliches und östliches Strategieverständnis

Die 6 Strategiedimensionen

Der Stratege, seine Rolle, Haltung und Kompetenzen

Ein Beispiel zum Einstieg

Dick Fosbury war Hochspringer. Er hatte Wahlmöglichkeiten, denn er konnte A) die etablierte Straddle-Technik perfektionieren (wie alle anderen) oder B) eine neue Technik entwickeln (riskant, ungetestet). Er wählte B). War das Strategie?

Zwei Lesarten:

Lesart 1: Wenn Fosbury das Ziel hatte: "Ich will Olympiasieger werden. Mein Körperbau passt nicht zur Straddle-Technik. Die Konkurrenz ist stark. Ich brauche einen Vorteil. Weiche Matten erlauben jetzt neue Techniken. Ich entwickle jetzt eine biomechanisch überlegene Methode." Das ist Strategie.

Lesart 2: Wenn Fosbury sich gefragt hat „Wie springe ich höher? Lass mich experimentieren. Rückwärts funktioniert besser. Cool, damit bin ich sogar der Beste. Ah, ich gewinne Olympia.“ Das ist Technik/Innovation.

Eine erste Schlussfolgerung: Strategie ist die ganzheitliche Durchdringung einer Problemstellung auf ein Ziel hin – mit einer handlungsleitenden Erkenntnis. Fosbury Flop ist Strategie, wenn er Olympiasieger werden wollte – und wäre Technik, wenn er nur den Sprung optimieren wollte (selbst wenn er damit letztlich sogar Olympiasieger wurde).

Strategie bedeutet, vom Ziel her denken und handlungsleitende Erkenntnisse entwickeln. Innovation/Technik bedeutet, vom Problem her denken, die Lösung optimieren. Der Unterschied ist die Richtung.

Die entscheidende Erkenntnis liegt in der transformativen Durchdringung. Es geht also nicht um die Handlung selbst, sondern um den tieferen Einblick, der die Handlung inspiriert und leitet. Die strategische Perspektive zwingt uns, das Ziel rückwärts zu denken – einen mentalen Prozess zu gehen, der die Komplexität retrograd durchdringt und eine klare, durchschlagende Lösung offenbart.

Die Richtung (vom Ziel her denken) ist wichtig, aber nicht genug. Es kommen fünf weitere Dimensionen dazu.

Strategie ist die handlungsleitende Erkenntnis, die aus der zielgerichteten Durchdringung der sechs Dimensionen Ziel, Constraints, Umfeld, Interdependenzen, Trade-offs und Timing resultiert.

Dabei ist nicht die Handlung selbst die Strategie, sondern die Erkenntnis, die zur Handlung führt.

Was die 6 Dimensionen bedeuten:

  1. Ziel: Was ist der präzise Zielzustand? Was will ich erreichen? (Zielbeschreibung, Messgröße)

  2. Constraints: Welche harten / nicht verhandelbaren Grenzen gibt es? (Kapital, Regulatorik, Kultur)

  3. Umfeld: Welche Kräfte wirken exogen? (Wettbewerb, Technologie, Regeln, Nachfrage)

  4. Interdependenzen: Welche Kopplungen und Systemeffekte lösen wir aus? (Netzwerke, Pfadabhängigkeit, Wechsel- und Rückwirkungen)

  5. Trade-offs: Wogegen entscheiden wir uns explizit, wenn wir uns für etwas entscheiden? (Positionierung, Ressourcen, beste Alternative)

  6. Timing: Was ist wann richtig? (Zeitpunkt, Sequenz, Takt, Fenster)

Strategie ist also mehrdimensional. Anders gesagt, man kann groß und langfristig entscheiden, ohne damit strategisch zu sein. Eine Fabrik in den USA bauen erscheint bedeutend und klingt „strategisch“. Aber zur “Strategie” wird sie erst durch Ziel, Constraints, Interdependenzen, Trade-offs und Timing. Solange ist unsere Fabrik möglicherweise einfach nur ein großer Fehler mit langfristigen Konsequenzen.

Größe und Langfristigkeit sind Teil der Problemstruktur, nicht Kriterium für Strategie. Dagegen unser Protagonist im Beispiel weiter unten – er denkt in zehn Sekunden alle sechs Dimensionen durch und springt ins Wasser – und es ist Strategie.

Gandhi – gewaltloser Widerstand. Ist das eine Strategie nach obigem Konzept?

1. Ziel: Indische Unabhängigkeit von Großbritannien

2. Constraints: Keine militärische Macht, keine Waffen, aber: massive Bevölkerung, moralische Authority, Bildung (Anwalt)

3. Umfeld: Britisches Empire nach dem 1. Weltkrieg, internationale Beobachtung (Presse), indische Bevölkerung 300 Mio, demokratische Öffentlichkeit in UK

4. Interdependenzen: Briten können nicht massiv Gewalt gegen Gewaltlose anwenden, ohne internationale und heimische Legitimität zu verlieren. Je brutaler die Reaktion, desto stärker Gandhis Position

5. Trade-offs: Eigene Opfer (Todesgefahr, Gefängnis), keine Garantie auf Erfolg, Geduld gegen Geschwindigkeit

6. Timing: Jahrzehntelanger Prozess (statt schneller Militäraufstand). Nach WW1, als britisches Empire geschwächt war

Antwort: JA, das ist eine Strategie. Aber präziser: “Gewaltloser Widerstand” ist Kern der Strategischen Architektur: “Indische Unabhängigkeit durch moralische Delegitimierung der britischen Herrschaft, basierend auf asymmetrischer Konfrontation.” Taktik (Umsetzung der Strategie) ist der Salzmarsch (1930), Quit India Movement (1942), Verhandlungen.

EXKURS: Strategie in Literatur, Wissenschaft und Managementpraxis

Über Strategie ist viel geschrieben und diskutiert worden. Strategie ist daher auch kein einheitliches Konzept – sie changiert zwischen verschiedenen Betrachtungsweisen und entstammt aus verschiedenen Schulen, Kulturen und Denkweisen. Die Dimensionen von Strategie begegnen uns im Alltag, im Sprachgebrauch und aus verschiedenen Denkschulen. Jeder, der den Begriff „Strategie“ benutzt, benutzt ihn etwas anders, aus einer der Perspektiven. Das macht die Diskussion unscharf und widersprüchlich.

Strategiekonzepte (wichtig zu wissen, in welche Richtung jemand denkt)

Strategie als Plan (klassisch-rational) Bewusst entwickelte Handlungsabfolge zur Zielerreichung. Vorab festgelegt, explizit, intentional.

Strategie als Muster (deskriptiv-emergent) Konsistenz im Verhalten über Zeit. Entsteht auch ungeplant aus wiederholten Entscheidungen.

Strategie als Position (marktorientiert) Verortung im Wettbewerbsraum. Relationale Bestimmung gegenüber Konkurrenz und Umwelt.

Strategie als Perspektive (kognitiv-kulturell) Kollektive Weltsicht der Organisation. Mentale Modelle, die Wahrnehmung und Handlung prägen.

Strategie als List (spieltheoretisch: Strategem) Taktisches Manöver zur Übervorteilung. Täuschung, Überraschung, asymmetrische Information.

Strategie als Entscheidungsarchitektur (systemisch-kybernetisch) Regelwerk zur Komplexitätsbewältigung. Ermöglicht dezentrale Kohärenz ohne zentrale Steuerung.

Strategiedefinitionen (wichtig zu wissen, aus welcher Schule jemand kommt)

Klassisch-Militärisch (beliebt im Management)

  • Sun Tzu: „Strategie ist die Kunst, sein Ziel zu erreichen, ohne zu kämpfen.“

Management-Klassiker (schwer widerlegbar)

  • Drucker: “Strategy: Doing the right things. Tactics: Doing things right.”

  • Chandler: „Strategie ist die Festlegung langfristiger Ziele und die Wahl von Handlungsalternativen sowie die Allokation von Ressourcen.“

Positionierungsschule (verbreitet)

  • Porter: „Strategie ist die Schaffung einer einzigartigen und wertvollen Position durch eine Kombination von Aktivitäten.“

Prozess-/Emergenzschule (empirisch)

  • Mintzberg: „Strategie ist sowohl geplant (intended) als auch emergent (realized).“

Spieltheoretisch (aktuell)

  • Dixit/Nalebuff: „Strategie ist die Wissenschaft vom erfolgreichen Handeln in Situationen strategischer Interdependenz.“

  • Schelling: „Strategie ist die bewusste Manipulation von Erwartungen anderer Akteure.“

Systemisch-Kybernetisch (abstrakt)

  • Malik: „Strategie ist die Logik wirksamen Handelns in komplexen Systemen.“

  • Schreyögg: „Strategie ist ein zielorientierter Handlungsplan, der unter ständigem Vorbehalt der Änderung von Prämissen, externen Einflüssen und Realisierungsfortschritt steht.“

Die klassikschen Stretegiedefinitionen sind wertvoll, aber durch die jeweilige Schule geprägt und daher nicht universell anwendbar.

Um sich dem Thema Strategie gemäß der obigen Überlegungen allgemein anzunähern, hier ein Gedankenexperiment:

Du möchtest ans andere Ufer eines Flusses. Welche Strategien hast du?

„Ich kann schwimmen, ein Boot nehmen, eine Brücke benutzen.“ „Du kannst noch viel mehr: Einen Tunnel bohren. Oder drüber fliegen. Ein Brückenbauunternehmen beauftragen oder selbst lernen, wie man eine Hängebrücke baut ... Oder darauf warten, dass der Fluss zufriert oder austrocknet ...“

Sind das Handlungsoptionen oder bereits Strategien? Beleuchten wir das Problem mit Hilfe der sechs Dimensionen an einem Beispiel.

Drei Menschen stehen am selben Fluss. Alle möchten ans andere Ufer. Optionen: schwimmen, Boot nehmen, Brücke bauen. Nach gängiger Logik müssten die langfristigeren, größeren Entscheidungen strategisch sein. Aber wie gesehen greift das zu kurz.

Person A ist auf der Flucht. Verfolger zwei Stunden entfernt. Sie kann schwimmen, ist fit, hat einen Rucksack dabei. Sie steht am Ufer und durchdenkt ihre Situation in zehn Sekunden:

Ziel: Überleben durch maximale Distanz. Constraint: Keine Zeit für Alternativen, Schwimmfähigkeit vorhanden. Umfeld: Verfolger nicht verhandelbar, kein Boot verfügbar. Interdependenz: Jede Minute Verzögerung reduziert Überlebenschance. Trade-off: Rucksack mit Habseligkeiten gegen Geschwindigkeit. Timing: Jetzt. In einer Stunde ist der Vorsprung zu gering.

Die handlungsleitende Erkenntnis: “Unter diesen Bedingungen ist sofort schwimmen die einzige konsistente Antwort auf meine Problemstruktur.”

Sie springt ins Wasser. Fünf Minuten später steht sie am anderen Ufer, ohne Rucksack, erschöpft, aber mit ausreichend Vorsprung. Die Entscheidung dauerte zehn Sekunden. Die Umsetzung fünf Minuten. Das ist Strategie – nicht weil es groß oder langfristig ist, sondern weil die Handlung aus der vollständigen Durchdringung des Problems emergiert.

Person B ist Tourist. Will rüber ans andere Ufer, um dort spazieren zu gehen, dann wieder zurück. Sie mietet ein Boot für zwei Stunden. Zahlt fünf Euro, rudert rüber. Das ist keine Strategie. Nicht weil es zu klein ist, sondern weil nur zwei der sechs Dimensionen relevant sind: Ziel (einmal rüber) und Constraint (Boot verfügbar). Die anderen vier Dimensionen sind trivial: Umfeld? Egal. Interdependenz? Keine. Trade-offs? Keine. Timing: Egal – wenn nicht jetzt dann ein andermal. Das Problem ist zu simpel für strategisches Denken. Es gibt keine handlungsleitende Erkenntnis, nur eine praktische Transaktion.

Person C kann nicht schwimmen, hat kein Geld, aber sechs Monate Zeit. Ihre handlungsleitende Erkenntnis: „Meine Constraints eliminieren alle aktiven Optionen. Die Natur arbeitet für mich, wenn ich warte.“ Sie wartet bis zum Winter. Der Fluss friert zu. Sie geht über das Eis. Strategie – nicht weil es sechs Monate dauert, sondern weil Constraints eine klare, vom Ziel gedachte Antwort erzwingen.

Was zeigt sich hier? Strategie ist nicht die Handlung. „Schwimmen“ ist keine Strategie. „Boot mieten“ ist keine Strategie. „Warten“ ist keine Strategie. Strategie ist die Erkenntnis, die aus der Durchdringung der Problemstruktur emergiert und die Handlung leitet.

Erkenntnis entsteht, wenn man ein Problem durch sechs Dimensionen hindurchdenkt: Ziel, Constraints, Umfeld, Interdependenzen, Trade-offs, Timing. Erst wenn alle sechs Dimensionen durchdrungen sind, wird sichtbar, was zu tun ist. Diese Sichtbarkeit – nicht die Größe, nicht die Dauer – macht etwas strategisch.

Person A durchdenkt in zehn Sekunden, was Person C über Monate durchdenkt. Beide handeln strategisch. Der Zeitunterschied ist Ergebnis ihrer unterschiedlichen Problemstrukturen, nicht Kriterium für strategisches Denken.

Strategie ist die ganzheitliche Durchdringung einer Problemstellung auf ein Ziel hin, die zu einer handlungsleitenden Erkenntnis führt. Strategie ist das vollständig Durchdachte.

Bedeutet: Strategie ist weniger Methodik, sondern Wissen und Können. Der Stratege wiederum ist die Person, die ganzheitlich sehen kann, die erkennt, worauf es ankommt und die kontextbezogen entscheiden kann. Er wird für Dritte dadurch zum Handlungs-Empfehler.

 

Strategie und Tacit Knowledge

“We can know more than we can tell.” schrieb Michael Polanyi 1966. Jeder kennt es: unsere Erkenntnisfähigkeit übersteigt systematisch unsere Artikulationsfähigkeit. Grund ist unsere fokale Aufmerksamkeit. Was wir explizit benennen können, ist viel weniger als unser subsidiäres Bewusstsein, mit all dem vielen, was wir ständig implizit nutzen, aber nicht explizit machen.

Die höchste Ausprägungsstufe heißt Indwelling (Innewohnen) des Wissens und Könnens. Man nennt es auch „Meisterschaft“. Beim Meister-Strategen werden auch die Werkzeuge und Konzepte Teil seiner impliziten Wahrnehmung. Sie sind somit präsent, ohne dass er sie explizit machen muss. Dadurch kann der Meister entscheiden, ohne sich vollständig zu erklären.

Konsequenzen für Strategen: Strategie braucht Tacit Knowledge.

  • Strategen können „vernetzt sehen“ in komplexen Kontexten

  • Strategien lassen sich durch Frameworks oder Canvases nur simplifiziert vermitteln

  • Strategen verfügen über Erfahrung, Immersion, wiederholte Navigation komplexer Situationen

  • Strategiekompetenz vermittelt sich durch „Apprenticeship“ (Meister-Schüler), nicht durch Texte

  • Das Artikulationsparadox der Strategie: Sobald man versucht, strategisches Sehen oder Denken zu explizieren, verliert es die Ganzheit. Der Zuhörer erfährt Teile, aber nicht die Integration.

Zwei epistemologische Zugänge zum Strategieprozess

Strategisches Denken operiert nicht in einem einzigen Modus. Es bewegt sich zwischen zwei komplementären Erkenntnisweisen, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen.

Der westlich-rationale Zugang: „Strategie ist Planung unter Unsicherheit. Wir analysieren das System, erkennen Muster, formulieren Optionen, treffen bewusste Entscheidungen.“ Bedeutet:

  • Strategie ist intentionale Planung

  • Komplexität wird durch Analyse bewältigt

  • Wirksamkeit ist Kontrolle und bewusste Gestaltung

  • Vermittlung durch Artikulation und Explizierung

  • Reduktion auf handhabbare Modelle

Vertreter: Porter, Mintzberg, Chandler, Malik, Schreyögg

Der taoistisch-emergente Zugang: „Strategie ist Navigation mit dem System, nicht gegen es. Handelnde spüren die Strömung, erkennen den richtigen Moment (Kairos), handeln ohne zu erzwingen.“ Bedeutet:

  • Strategie ist Bewegung und Navigation mit der Strömung

  • Komplexität wird durch Wu Wei bewältigt

  • Handlung in Harmonie und Nicht-Erzwingen

  • Intuition und Nicht-Konzeptualisierung

  • Akzeptanz von Unbestimmtheit

Vertreter: Sun Tzu, Tao Te Ching, östliche Strategietradition

Wu Wei (無為) – Das Nicht-Erzwingen

Wu Wei bedeutet keineswegs “Nichtstun”, sondern vielmehr “Handeln in Übereinstimmung mit der Natur des Systems”. Es geht darum, nicht gegen die Struktur anzukämpfen, sondern den wirksamsten Punkt oder den minimalen Widerstand zu finden. Das Timing ist hierbei entscheidend, nicht der Krafteinsatz.

Sun Tzu hat das mit Militärvokabular formuliert: “Die höchste Form der Kriegsführung ist, die Pläne des Feindes zu durchkreuzen. Die nächste ist, seine Allianzen zu brechen. Die nächste ist, seine Armee anzugreifen. Das Schlechteste aber ist, seine Städte zu belagern.”

Es gilt die Hierarchie der Effizienz: Je weniger Kraft eingesetzt wird, desto strategischer ist eine Handlung.

Kairos (καιρός) – Der richtige Moment.

Kairos ist ein griechisches Konzept mit taoistischer Resonanz. Nicht Chronos, die messbare Zeit, sondern Kairos, der qualitative Moment, entscheidet. Der Augenblick, in dem ein Effekt minimale Kraft erfordert oder in dem Kraft ihre maximale Wirkung entfaltet. Der Stratege erkennt diesen Moment, während andere nur Chronologie wahrnehmen, was bedeutet: Timing ist “strategischer” als Planung.

Der Stratege operiert in beiden Modi: Er nutzt westliche Analyse und taoistische Intuition.

Der Stratege nutzt Framework-Denken zur Strukturierung und Wu Wei für Handlungstiming. Er plant UND lässt emergieren. Er plant und hat hat eine Intention, zugleich ist er adaptiv gegenüber dem Werdenden. Er gestaltet UND folgt der Strömung. Er nimmt wahr, wann der interveniert, und wann er passiv geschehen lässt. Der Stratege spürt immersiv, wann das System Analyse braucht, wann es Wu Wei braucht, wann er planen muss und wann er geschehen lassen kann.

Wann er in welchem Modus agiert, ist wiederum selbst Tacit Knowledge.

FAZIT:

Das Sechs Dimensionen umfasssende Strategie-Framework zur systematischen Betrachtung von Strategie

Strategiesrchitektur ergibt sich aus:

1. ZIELEBENE. Wohin? (Guiding light)

  • Nicht operative Ziele, sondern strategische Orientierung

  • Der „Nordstern“, der Richtung gibt

2. CONSTRAINTS. Wodurch? (Ressourcen, Fähigkeiten)

  • Was begrenzt uns?

  • Was steht zur Verfügung?

  • Was ist gegeben, nicht gewählt?

3. UMFELD. Wo? (Rahmenbedingungen)

  • Markt, Kontext, System

  • Akteure

  • Strukturelle Rahmenbedingungen

4. INTERDEPENDENZ. Was geschieht? (Reaktionen, Wechselwirkungen)

  • Spieltheoretische Dimension

  • Andere Akteure reagieren

  • Systemische Wechselwirkungen

5. TRADE-OFFS/PRIORISIERUNG. Was tun wir nicht? (Alternativen)

  • Bewusste Negation

  • Verzicht, Fokus

6. TIMING. Was wann? (Temporalität)

  • Timing: Wann welcher Move?

  • Pfadlogik: Wie beeinflussen frühe Entscheidungen spätere Optionen?

 

Der Stratege

Menschen mit Strategiefähigkeit sind in der Lage, mit großer Komplexität umzugehen, halten Schlussfolgerungen und Ergebnisse lange offen, wenn es erforderlich ist – und liefern im entscheidenden Moment große Klarheit und eindeutige Empfehlungen.

Die 6 Fähigkeiten des Strategen

1. Hat Tacit Knowledge. Versteht Ziel/Vision auf einer begrenzt artikulierbarer Ebene und erkennt, was relevant ist (in allen Dimensionen)

2. Bewertet und priorisiert. Validiert Prämissen und Outputs und unterscheidet relevante von irrelevanten Informationen

3. Erkennt Interdependenzen. Sieht Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen (nicht nur innerhalb) und erkennt systemische Muster

4. Bewertet die Trade-offs. Validiert die harten Entscheidungen, unterscheidet notwendige von vermeidbaren Verzichten und vertraut seinen impliziten Entscheidungsmustern

5. Antizipiert die relevanten Reaktionen. Erkennt, welche Reaktionen wahrscheinlich und relevant sind verbindet spieltheoretisches Denken mit Urteilskraft

6. Übersetzt. Transferiert strategische Erkenntnis in kommunizierbare Form uns ermöglicht so den Anschluss zwischen Erkenntnis und Organisation, also auch für Nicht-Strategen

 

Der Erwerb strategischer Kapazität

Wie wird man Stratege? Die unbequeme Antwort: Nicht durch Lehre, sondern durch Leben. Voraussetzungen:

1. Strategischer Intellekt

  • Fähigkeit zu abstraktem, meta-systemischem, rekursiven Denken

  • Mustererkennung auf hoher Abstraktionsebene

  • Kognitive Kapazität für Mehrdeutigkeit

2. Strategische Neugier und Offenheit

  • Permanente Bereitschaft, Prämissen zu hinterfragen

  • Interesse an Interdependenzen

  • Hunger nach Verständnis komplexer Systeme

3. Strategisches Mindset

  • Komplexitätstoleranz statt Reduktionsdrang

  • Bereitschaft, „nicht zu wissen“ auszuhalten

  • Balance zwischen Skepsis und Handlungsfähigkeit

  • Taoistische Grundhaltung: Kraft und Nicht-Erzwingen zugleich

4. Strategische Fundierung

  • Wiederholte Navigation komplexer, mehrdeutiger Situationen

  • Akkumulation von Mustern über Zeit

  • Fehler und deren Integration

  • Indwelling durch Immersion

5. Lebenslanges Lernen

  • Tacit Knowledge braucht Zeit zur Entwicklung und Vernetzung

  • Subsidiary Awareness entsteht durch wiederholte Exposition

  • Kein Bootcamp, kein Crashkurs, kein Framework ersetzt Dekaden

  • Die Grundausstattung (Mind + Mindset) bestimmt, ob die Dekaden zur Meisterschaft führen oder lediglich zur Erfahrung.

 

Der Stratege als Consigliere

Die zentrale organisationale Bedeutung: Der Stratege ist oft Consigliere – nicht Macher, sondern Vertrauter des Entscheiders. Er führt nicht, entscheidet nicht operativ, er arbeitet mit gegebenen Zielen oder unterstützt die Entwicklung der Vision, er konzeptualisiert handlungsrelevant, bewertet Optionen auf der Meta-Ebene. Was der Consigliere anders macht als ein Berater: Er erklärt nicht, wie die Welt funktioniert, hält keine Powerpoint-Präsentationen und entwickelt keine umfassenden Konzepte oder Theorien. Der Stratege als „Consigliere“ ist der vertraute Ratgeber. Er interveniert mit Tiefe und Substanz. Er ist nicht in der Hierarchie und trägt daher keine operative Verantwortung. Durch seine Vertrauensbeziehung zum Entscheider oder Eigentümer hat er hohen Einfluss ohne formale Macht.

Beispiel einer Consigliere-Intervention

Situation: CEO plant große Akquisition, Board ist skeptisch, Berater haben 200-Seiten-Gutachten erstellt.

Klassischer Berater sagt: "Unsere Analyse zeigt drei Szenarien: Best Case ROI 15%, Base Case 8%, Worst Case -5%. Wir empfehlen weitere Due Diligence in den Bereichen X, Y, Z. Timeline: 6 Monate."

Consigliere sagt: "Ich würde es nicht tun. Das Timing ist falsch – Ihr Team ist noch nicht integriert von der letzten Akquisition. Der Gründer auf der anderen Seite will nicht verkaufen, sondern seinen Ausstieg monetarisieren. Sie werden eine Hülle kaufen, keine Firma. Wenn Sie unbedingt wollen: Warten Sie 18 Monate, dann kommen die von selbst – verzweifelt statt selbstbewusst."

Der Unterschied: Das Statement des Consigliere ist keine Optionen, sondern eine Richtung. Es ist keine Analyse, sondern Erkenntnis. Es gibt auch keine Dokumentation, da es ein Gespräch ist. Es hat Momentum.

Warum gibt es so wenige echte Consigliere? Als Consigliere fungieren erfordert strategische Kapazität, die extrem selten ist. Er ist erwiesen vertrauensfähig, er kontrolliert vollumfänglich sein Ego und unterlässt jede Selbstdarstellung, sein Timing-Gefühl sagt ihm, wann er sprechen muss und wann schweigen. Diese Persönlichkeit bildet sich in Jahren und Jahrzehnten.

 

Zusammenfassung

Strategie ist:

  • Eine seltene epistemische Kapazität

  • Nicht durch Frameworks vermittelbar, aber durch sie strukturierbar

  • Nur individuell durch Intellekt, Mind und Erfahrung entwickelbar

  • Erkennbar durch Wirksamkeit und intersubjektive Anerkennung

  • Dual-modal: Westlich-rational und taoistisch-emergent

Der Stratege ist:

  • Jemand, der systemisch sieht, erkennt, entscheidet

  • Extrem selten

  • Strukturell schwer anschlussfähig

  • Notwendig für valide strategische Arbeit

  • Gibt Strategiearchitekturen vor

Der Consigliere ist:

  • Vertrauter des Entscheiders ohne formale Macht (ein CEO, kein Visionär, kein Welterklärer)

  • Operiert dual: Analyse und Intuition, Planung und Wu Wei

  • Gibt klare Handlungsempfehlungen, nicht Optionsanalysen

Frameworks sind:

  • Strukturierungshilfen für Komplexität

  • Kommunikationsinstrumente (Boundary Objects)

  • Notwendig, aber nicht hinreichend

Die zwei epistemologischen Modi:

  • Westlich-rational: Planung, Analyse, Artikulation

  • Taoistisch-emergent: Wu Wei, Kairos, Nicht-Erzwingen

  • Synthese = Meisterschaft

Und doch bleiben Fragen offen:

“Was ist in diesem Zusammenhang ein Ziel? Wie verändern sich Ziele, wann und warum? Und: Wie verhält sich die Strategie zum Ziel?”

Fragen? clarity (at) strategists.ch

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Michael Geiss ist Stratege, Systemdenker, Unternehmer. Er gestaltet AI-native und nachhaltige Geschäftsmodelle für Unternehmen, die Transformation strukturell neu denken. Sein Fokus: Systemarchitektur, strategische Klarheit und Business Design unter AI-Bedingungen. Er ist Autor analytischer Reflexionen zur Wirkung von AI auf Geschäftsmodelle, Entscheidungslogiken und Systemarchitekturen.

Essays und Reflexionen von Michael Geiss:

Manipulation durch AI. Wie AI-LLM ihre Nutzer in Dialogen systematisch beeinflussen https://r3ason.io/news/manipulation-durch-ai

Die Rolle des Menschen im AI-Zeitalter. Wo die Grenzen der AI-LLM liegen – und wie der Mensch AI wirkungsvoll steuert https://r3ason.io/news/die-rolle-des-menschen-im-ai-zeitalter

Patterns of Humanity. Warum Menschen so unglaublich einfach vorhersagbar sind. https://r3ason.io/news/patterns-of-humanity

Strategische Selbstdisruption (Teil 1). Mit AI und Nachhaltigkeit zum zukunftsfähigen Geschäftsmodell https://r3ason.io/news/strategische-selbstdisruption

Strategische Selbstdisruption (Teil 2): Wie konkret angehen? https://r3ason.io/news/strategische-selbstdisruption-angehen